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Nicht auf der Straße, sondern in den Köpfen

Accessible Sidewalk Edge
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iStock/RonBailey

Markus Wolf befasst sich ehrenamtlich mit der Situation blinder und sehbehinderter Menschen und kennt diese aus persönlicher Erfahrung. Die größten Hindernisse im Alltag finden sich dabei oft nicht auf der Straße, sondern in den Köpfen.

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Dr. Markus Wolf

Dr. Markus Wolf arbeitet im Bundeskanzleramt. Zusätzlich engagiert er sich ehrenamtlich auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene für die Anliegen blinder und sehbehinderter Menschen. © Foto: bm vit / Johannes Zinner

Wie gestaltet sich die Arbeitsmarktsituation für blinde und sehbehinderte Menschen aktuell?

Menschen mit Behinderungen haben es immer schwerer am Arbeitsmarkt. Zu Beginn des Jahres ist die Arbeitslosigkeit in der „Normalbevölkerung“ deutlich gesunken, bei Menschen mit Behinderung dagegen leicht gestiegen. Selbst wenn es sich um sehr gut ausgebildete Menschen handelt, ist es oft sehr schwierig diese zu vermitteln.

Gibt es Organisationen, die den Menschen helfen, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen?

Es gibt sehr engagierte Vereine und Verbände, die blinden und sehbehinderten Menschen innovative Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze anbieten. Das reicht von der Brustkrebsfrüherkennung durch Tastuntersuchung bis hin zur Ausbildung zum Fahrradmechaniker. Auch der Beruf des Masseurs ist nach wie vor ein Berufsbild, das vielen Menschen ein erfülltes Arbeitsleben ermöglicht. Von manchen Berufen sind blinde Menschen aber unverständlicherweise trotz ihrer spezifischen Begabungen ausgeschlossen. So ist es Ihnen nicht möglich eine Physiotherapie-Ausbildung zu absolvieren. Dabei zeigen Beispiele aus anderen europäischen Staaten, dass sie diesen Beruf sehr gut bekleiden können.

Wie steht es um Beschäftigungsmöglichkeiten bei herkömmlichen Bürotätigkeiten?

Technische und persönliche Assistenz erlauben es blinden und sehbehinderten Menschen mittlerweile viele Bürojobs auszuüben. Dank Screenreader und Braillezeile kann ich selbständig mit typischen Office-Programmen arbeiten.  Unterschiedliche Apps und unterstützende Systeme für die Fortbewegung helfen mir dabei, auch Geschäftsreisen wahrzunehmen. Reicht das einmal nicht, ist es möglich, persönliche Assistenz in Anspruch zu nehmen. Sowohl technische als auch persönliche Assistenz kosten den Dienstgeber im Regelfall nichts. Viele Unternehmen sind aber nicht über diese Möglichkeiten informiert und wissen oft nicht, wie sie mit blinden und sehbehinderten Menschen umgehen sollen und was diese zu leisten im Stande sind.

Die Darstellung blinder Menschen ist oft stark verzerrt: Entweder werden sie als Personen wahrgenommen, die nichts können, dann sind sie wieder halbe Superhelden. In Wirklichkeit sind wir aber weder extrem schlecht, noch extrem gut, sondern einfach normal.

Welche Rolle spielt die Frühförderung für Ausbildung und Berufsleben?

Die Frühförderung fördert das Vertrauen und den Einsatz der verbleibenden Sinne und bereitet blinde und sehbehinderte Menschen so frühzeitig auf die Schule und die weitere Ausbildung vor. Die Frühförderung ist aber Ländersache und darum recht uneinheitlich geregelt. In manchen Bundesländern gibt es gar keine, in anderen ist sie nur in sehr geringem Umfang vorhanden. Menschen hinken dann oft das ganze Leben hinterher, obwohl sie eigentlich begabt sind.

Eine ähnlich wichtige Rolle hat auch das Orientierungs- und Mobilitätstraining?

Es ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen überhaupt an ihre Ausbildungsstätte und ihren Arbeitsplatz gelangen und sich sicher im öffentlichen Raum bewegen können. Allein mit dem Langstock umgehen zu können, ist zwar wichtig, reicht aber oft nicht. Es geht darum, spezifische Wege  sehr sicher bewältigen zu können. Als mein Büro umgezogen ist, habe ich zum Beispiel auch ein Mobilitätstraining in Anspruch genommen, damit mir jemand den neuen Arbeitsweg genauestens erklärt und ich ihn mir einprägen kann.

Was braucht es, damit blinde und sehbehinderte Menschen einfacher am Arbeitsleben teilhaben können?

Das Wichtigste ist der Abbau von Barrieren in den Köpfen der Menschen. Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, was blinde oder sehbehinderte Menschen wirklich können. Die Darstellung blinder Menschen ist oft stark verzerrt: Entweder werden sie als Personen wahrgenommen, die nichts können, dann sind sie wieder halbe Superhelden. In Wirklichkeit sind wir aber weder extrem schlecht, noch extrem gut, sondern einfach „normal“. Normalität geht aber über die Arbeitswelt hinaus. Vollständige soziale Teilhabe heißt normale Dinge tun zu können: zum Beispiel ins Museum gehen und das barrierefrei genießen oder einfach mittels Audiodeskription Fernsehen zu können. Blinde und sehbehinderte Menschen sollen an ganz normalen Aktivitäten teilhaben können und es soll vollkommen normal sein, dass sie dabei sind. Das ist aber ein Prozess, der noch länger brauchen wird.


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