Dr. Simone Weiss, Pädiaterin, und Mag. Jörg Wollmann, Vater eines Sohnes mit Duchenne-Muskeldystrophie, sprechen im Interview über die Wichtigkeit von Ressourcen für Case Management und persönliche Assistenz.
Dr. Simone Weiss
Pädiaterin
Foto: ZVG
Mag. Jörg Wollmann
Vater eines Sohnes mit Duchenne-Muskeldystrophie
Foto: Sebastian Philipp
Frau Dr. Weiss, wie kann man Kinder und Jugendliche mit seltenen oder chronischen Erkrankungen gut begleiten?
In dieser Frage stecken viele Unterfragen, aber um zwei wichtige Punkte herauszustreichen: Sowohl die Vernetzung zwischen der Familie und der Medizin, als auch die soziale Begleitung sind wichtig. Im Gesundheitssystem fokussieren wir uns nahezu ausschließlich auf medizinische Themen. Doch das Leben der Kinder und Jugendlichen besteht aus mehr als nur Gesundheitsfragen. Es geht auch darum, was es braucht, um soziale Teilhabe gut leben zu können, und dafür benötigen wir ein Ineinandergreifen der Hilfssysteme.
Herr Mag. Wollmann, wie haben Sie Ihren Sohn in – medizinische – Entscheidungen miteingebunden?
Nicht alle seltene Erkrankungen sind gleich. Bei einer degressiven Erkrankung, die auch unseren Sohn betrifft, weiß man von Beginn an, dass die Krankheit schlechter werden wird – man weiß aber weder wann, noch in welchem Tempo. Es gibt Wege, diese Verschlechterung zu verlangsamen, aber es gibt – noch – keine Heilung. Wir haben uns entschlossen, sämtliche therapeutischen Möglichkeiten wahrzunehmen und deren Notwendigkeit mit unserem Sohn zu besprechen. Solange er klein war, haben wir das Medizinische möglichst aus unserer Sprache herausgenommen, etwa in dem wir statt Schienen das Wort „Bettschuhe“ verwendet haben, und statt Tablette „Krümel“, um dies zu einem „normalen“ Teil seines Lebens zu machen.
Inwiefern können Kinder und Jugendliche in Entscheidungsprozesse miteingebunden werden und welchen Einfluss hat das auf den Therapieerfolg, Frau Dr. Weiss?
Sowohl für die Selbstwahrnehmung und Selbstkompetenz als auch für die Compliance ist es wichtig, Kinder so zu informieren, dass sie verstehen, was mit ihnen los ist und was passiert. Es gibt hier keine Altersgrenzen, sondern es geht dabei immer um den Entwicklungsstand eines Kindes. Der Sinn einer Therapie muss verständlich und erfahrbar sein und sie muss auch „lebbar“ in den Familienalltag integrierbar sein.
Wenn Sie an die bisherigen Herausforderungen denken, Herr Mag. Wollmann: Würde Ihnen künftig ein Case Management dabei helfen, gut durch das Gesundheits- und Sozialsystem zu navigieren?
Natürlich! Jede Unterstützung hilft, um nicht wieder bei Adam und Eva beginnen zu müssen. Es kommen ständig neue Themen dazu, und der organisatorische Aufwand ist groß. Ein Case Management wäre hier eine enorme Erleichterung!
Frau Dr. Weiss, welche Rolle könnte das Case Management aus Ihrer Sicht übernehmen?
Wir würden erwarten, dass sich das Case Management in medizinischen als auch alltäglichen Fragen auskennt und Orientierung geben kann. Es unterstützt bei der Terminkoordination und nimmt eine Schnittstellenfunktion ein – angefangen bei der Vernetzung der Hilfssysteme bis zum Übergang von der Kinder- in die Erwachsenenmedizin.
Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit Kinder und Jugendliche mit einer Muskelerkrankung soziale Teilhabe wirklich leben können, Frau Dr. Weiss?
Das hängt natürlich von der Muskelerkrankung ab, denn hier gibt es ein riesiges Spektrum. Eltern von Kindern und Jugendlichen, die eine Beeinträchtigung haben, müssen häufig ihre Berufstätigkeit einschränken oder sogar aufgeben, um sich auf Pflegetätigkeiten konzentrieren zu können. Daher bräuchte es hier einen Ausbau der pflegerischen Unterstützung im Alltag. Damit Kinder aber nicht nur am Familien-, sondern auch am Gesellschaftsleben teilhaben können, braucht es außerdem einen Ausbau der persönlichen Assistenz, um lokalen Schulbesuch zu ermöglichen. Ich sehe hier einen riesigen Auftrag, Wege klar zu regeln und mehr Ressourcen bereit zu stellen.
Welche Verbesserungen braucht es aus Ihrer Perspektive, Herr Mag. Wollmann?
Es müssen Wege gefunden werden, um – trotz des Fehlens von körperlichen Fähigkeiten – die geistigen Fähigkeiten einsetzen und fördern zu können. Das betrifft unter anderem die Schule, in der wir etwa die Digitalisierung von Lerninhalten benötigen. Als Familie haben wir immer versucht, das, was möglich ist, gemeinsam zu unternehmen. So haben wir zum Beispiel ein Spezialfahrrad für gemeinsame Radtouren anfertigen lassen. Es gibt also Möglichkeiten für soziale Teilhabe, wenngleich sie auch viele Ressourcen kosten. Wichtig wäre außerdem – gerade für Jugendliche unter 18 Jahren – die erfolgreiche Inanspruchnahme einer für das Erwachsenwerden so wichtigen Freizeitassistenz.
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