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Corona als Motivationsschub? Skoliosepatienten – eine ungewöhnliche Situation

In Kooperation mit
Foto: Joyce McCown via Unsplash
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Jenny Dinges

Physiotherapeutin & Osteopathin

Stefanie Gürtler

Geschäftsstelle Bundesverband Skoliose-Selbsthilfe e.V.

Jenny Dinges arbeitet seit 2014 als Physiotherapeutin in Wien und ist ehrenamtlich für den Bundesverband Skoliose-Selbsthilfe e. V. tätig. Als Kontaktstelle ist sie Ansprechpartnerin für Betroffene und Angehörige in Österreich. Stefanie Gürtler leitet die Geschäftsstelle des Vereins in Deutschland. Regelmäßig tauschen sich Ehrenamtliche virtuell untereinander oder mit dem Vorstand über Fragen zu Behandlungen und das Leben mit Skoliose aus. Dabei geht es immer auch um das eigene Gefühl, und da, so stellen Gürtler und Dinges zunehmend fest, fehlt vielen Betroffenen in letzter Zeit die innere Balance.

Der Lockdown im März dieses Jahres als Auswirkung der Corona-Pandemie traf jeden so überraschend wie unvorbereitet. Die Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln zwangen die Menschen in die soziale Isolation, und zahlreiche Arbeitsplätze wurden kurzfristig ins Homeoffice verlegt. Mitten im Berufsleben mussten plötzlich sämtliche Alltagsabläufe neu organisiert werden. Diese Maßnahmen stellten einen zusätzlichen mentalen Kraftakt dar. Die Ausgangssperren und eingeschränkten Freizeitaktivitäten hatten körperlich bei einigen eine Gewichtszunahme zur Folge aufgrund von mangelnder Bewegung. Zusätzlich hatte die Gesamtsituation Einfluss auf das seelische Wohlbefinden – die Sorgen aufgrund einer unsicheren Gegenwart sind nach wie vor aktuell. Vielleicht war dieser Umstand der Auslöser für eine innere Einkehr hin zu mehr Selbstreflexion und einem neuen Körperbewusstsein? Jetzt, nachdem wieder die Möglichkeit zu mehr Austausch und sozialer Kontaktaufnahme besteht und altbekannte Alltagsroutinen wieder aufgenommen werden können, trifft Physiotherapeutin Jenny Dinges in ihrem Berufsalltag vermehrt auf junge Menschen und Junggebliebene zwischen 20 und 50, die auf der Suche nach ihrer inneren Balance sind und sich bewusst „etwas Gutes“ tun wollen. Eine positive Lebenseinstellung ist das erklärte Ziel von etlichen Patienten.

Jenny Dinges betreut beruflich Skoliotiker. Bei den meisten Menschen ist die Wirbelsäule nicht ganz gerade. Etwas mehr als ein Prozent aller Menschen hat eine sogenannte Skoliose. Dabei handelt es sich um eine dreidimensionale Verdrehung der Wirbelsäule, die nicht vollständig aufgerichtet werden kann. Skoliose ist eine Wachstumsstörung und tritt häufig im Kindesalter auf.

Bei den Zehn- bis 14-Jährigen haben rund vier von 100 Jugendlichen eine Skoliose. Mädchen sind vier- bis fünfmal häufiger betroffen als Jungen, bei schweren Skoliosen sogar achtmal häufiger. Die Wirbelsäule wächst von der Geburt bis zum Abschluss des Wachstums. In den meisten Fällen (circa 90 Prozent) kennt man die Ursache einer Skoliose nicht genau, man spricht daher von einer idiopathischen Skoliose. Skolioseverkrümmungen können im Laufe des Lebens zunehmen. Eine Skoliose hat man ein Leben lang.

Manchmal wird die Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt und leider bekommen Betroffene immer wieder zu hören, dass man nichts machen könne. Eine Skoliose kann nicht nur zum Verlust der Beweglichkeit führen, sondern auch zur Buckelbildung, und sie kann eine Einschränkung der Herz- und Lungenfunktion bedeuten. Erst wenn sich ein Buckel bildet oder Schmerzen auftreten, suchen viele erwachsene Erkrankte nach Hilfe.

Die Behandlung einer Skoliose hängt vom Einzelfall ab. Während des Wachstums soll vor allem eine Zunahme der Krümmung vermieden werden. Es gibt, unter anderem, verschiedene Formen von Physiotherapie, die helfen können, die Wirbelsäule zu entdrehen und die Muskulatur an der richtigen Stelle aufzudehnen oder zu stärken. Welche Methode am besten ist, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von der Art der Skoliose und vom Patienten (Alter, körperliche Fähigkeiten usw.).

Erkrankungen, die nicht heilbar sind, beeinflussen Betroffene ein Leben lang. Wird diese Krankheit auch noch sichtbar, ist oftmals fachkundige Unterstützung hilfreich, damit dieser vermeintliche Makel nicht den Alltag bestimmt, sondern sich die Betroffenen entsprechend ihrer Interessen und ihrer Wesensart mit sich identifizieren und entwickeln können.

Im Sommer ein hautenges T-Shirt oder ein bauchfreies Top zu tragen, ist ein Synonym für ein jugendliches Freiheitsgefühl und Lebensfreude. Im Urlaub präsentieren wir gerne unsere körperlichen Vorzüge und attraktivsten Partien. Eine sportliche Figur und gute Körperhaltung zeigt jeder gerne, sie sind ein Inbegriff für Gesundheit. Aber wie gelingt uns ein selbstbewusstes Auftreten, wenn wir uns unwohl in unserem Körper fühlen?

Für viele Skoliotiker wog die Ausgangssperre im März in mehrfacher Hinsicht schwer. In der Zeit des Lockdowns hat fachliche Hilfestellung zur Erlernung einer besseren Körperwahrnehmung mittels Physiotherapie gefehlt. Klassischerweise erfolgt hierbei ein Kontrollblick während der Übungen auf den Rücken des Betroffenen. Nicht immer ist ein teletherapeutisches Angebot daher passend. Da sich die Skoliose im Laufe eines Lebens verändert, empfinden viele Betroffene eine kontinuierliche Unterstützung als besonders hilfreich zur Bestätigung ihrer eigenen Körperwahrnehmung.

Als wichtige Bezugsperson in der jetzigen Situation erhält Jenny Dinges in manchen Fällen den Stellenwert einer Freundin, da soziale Kontakte zurzeit noch reduziert wahrgenommen werden. Viele Fragen an die Therapeutin betreffen in diesen Tagen gezielt die Alltagsbewältigung. Wie sitze ich besser im Homeoffice? Welche Übungen kann ich noch in meinen Alltag einbauen, wenn ich keine Zeit zum täglichen 30-Minuten-Training habe? Wie bewege ich mich auf dem Schulhof? Wie halte und trage ich mein Kind besser, ohne den Rücken immer einseitig zu belasten? Als Fachkraft kennt Jenny Dinges außerdem den Umgang mit Jugendlichen und ihren Problemen besonders gut. Das Vertrauensverhältnis und die Bindung zu ihren Patienten beruhen auch auf psychologischer Unterstützung. Insbesondere Jugendliche im Wachstum hadern mitunter mit ihrem Hartschalenkorsett. Die Orthese aus Polyethylen umschließt den gesamten Oberkörper und ergänzt im Rahmen der konventionellen Therapie die Physiotherapie. Ein Korsett trägt jedoch sichtbar auf und man schwitzt im Sommer darin. Die empfohlene Tragezeit liegt bei bis zu 23 Stunden täglich. Viele tragen zwar ein T-Shirt darunter, jedoch kostet es Mut, sein Korsett offen zu tragen. Oft wird im Sommer zusätzlich noch ein weites, körperverhüllendes Kleidungsstück darüber getragen. Die Angst, wegen des Korsetts gehänselt zu werden, trifft offensichtlich den überwiegenden Anteil aller Korsettträger(innen). Hier kommt der Träger oder die Trägerin schnell täglich in einen inneren Disput.

Die tägliche Disziplin, Übungen zur Muskelkräftigung durchzuführen und/oder ein Korsett zu tragen, fordert den ärgsten inneren Schweinehund heraus. Die Balance zwischen Disziplin und Lebenslust ist ein stetig währendes Ziel. Jenny Dinges kann Tipps und Erfahrungen von anderen Betroffenen an ihre Patienten weitergeben. Dazu gehört vor allem auch, dass junge Frauen die Rundungen ihrer Körper annehmen und für sich selbst, trotz aller schlanken Schönheitsideale, ein Belohnungssystem entwickeln und sich etwas gönnen. Wiederholt und durch alle Altersstufen gleichermaßen wird überraschenderweise Schokolade geliebt. Ebenso eignen sich Eiscreme, Torte oder alternativ Shopping als Belohnung beim Erreichen seiner selbst gesteckten Ziele. Ein weiteres motivierendes und ungeschlagenes Element ist die beste Freundin oder der beste Freund, um die Seele zu streicheln. Dank Messenger-Dienste sind Freunde heutzutage bei Bedarf 24 Stunden erreichbar. Wobei das persönlich gesprochene Wort von Angesicht zu Angesicht noch immer die ungeschlagene Nummer eins in Sachen Kommunikation ist. Da kann keine Textnachricht mithalten!

Auf der Suche nach psychologischer Unterstützung, Motivation und nach Vorbildern werden auch die sozialen Medien herangezogen. Der persönliche Austausch, gemeinsame Aktivitäten und Spaß unter Gleichgesinnten zu haben, ist jedoch in jeder Altersstufe gefragt!

Hoffentlich ist irgendwann wieder ein entspannter Umgang miteinander möglich. Bis dahin wünschen wir allen Suchenden die passenden Ansprechpartner und Programme, um innerlich in Balance zu kommen oder zu bleiben. Nutzen Sie auch weiterhin die unlängst angestaute Motivation, etwas Gutes für Ihren Körper tun zu wollen! Allen Selbstzweiflern möchten wir Folgendes mitgeben: Sollten Sie einen Satz wie „Schau mir in die Augen, Kleines/r!“ hören, wird die andere Person garantiert keinen Makel an Ihnen im Blick haben. Seien Sie also mutig und trauen Sie sich ins Leben!

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