Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass bestimmte Wirkstoffe gegen die schwelende Multiple Sklerose wirksam sein könnten. Was das für MS-Patient:innen bedeutet, erklärt der Neurologe AO. Univ.-Prof. Dr. Fritz Leutmezer.

Wie kann man Multiple Sklerose beschreiben?
MS ist eine Autoimmunerkrankung. Dabei handelt es sich um eine Überaktivität des Immunsystems: Die Abwehrzellen, die normalerweise gegen Bakterien oder Viren vorgehen, greifen körpereigene Zellen an. Bei Rheuma ist es Knorpelgewebe, bei Schuppenflechte die Haut, und bei MS sind es Nervenzellen. Typischerweise tritt die MS schubhaft auf: Immer, wenn es zu einer Überaktivierung des Immunsystems kommt, wandern Abwehrzellen ins Gehirn. Dort verursachen sie eine Entzündung, die zum Absterben von Nervenzellen führt und klinische Beschwerden – von Lähmungen über Seh- bis hin zu Gefühlsstörungen – auslöst. Das Immunsystem reguliert sich dann selbst wieder, womit die Entzündungen abklingen. Aufgrund der Reservekapazitäten des Gehirns können die geschädigten Funktionen durch Um- und Neulernen teilweise oder gänzlich wiederhergestellt werden. Diese Form der MS ist mittlerweile gut behandelbar. Gleichzeitig nisten sich aber Abwehrzellen schon mit dem allerersten Schub im Gehirn ein und verursachen über die Jahre eine langsam fortlaufende Schädigung von Nervenzellen. Mit zunehmendem Alter kommen zu diesen Schädigungen auch normale Alterungsprozesse dazu, sodass oft gar nicht mehr klar unterschieden werden kann, ob eine Verschlechterung durch die MS oder die Alterungsprozesse zustande kommt. Jedenfalls führt die unterschwellige, permanente Entzündung zu einer langsamen und kontinuierlichen Schädigung der Nervenzellen, die in einer ebenso langsamen und schleichenden Verschlechterung von Beschwerden zum Ausdruck kommt – daher der Name: Progrediente oder Schwelende MS.
Was macht die Schwelende MS so schwer therapierbar?
Bei der Therapie der schubhaften MS konnten in den letzten 20 Jahren massive Fortschritte erzielt werden. Therapien regeln dabei direkt im Blut die Immunaktivität zuverlässig herab. Man kann die Erkrankung zwar nach wie vor nicht heilen, aber man kommt einer Heilung mit dem Einsatz der richtigen Mittel zum richtigen, also möglichst frühen, Zeitpunkt schon recht nahe. Die Schwelende MS hingegen findet im Gehirn statt, das durch die Blut-HirnSchranke sehr gut geschützt ist. Dieser Schutzmechanismus bewirkt aber auch, dass die heute verfügbaren Medikamente für die schubförmige MS kaum auf die Entzündungsprozesse im Gehirn einwirken können, weil sie schlicht nicht dorthin gelangen, wo sie wirken müssten. Man arbeitet deshalb seit Jahren an Medikamenten, die die Blut-Hirn-Schranke passieren können, um die langsam vor sich hin schwelenden Entzündungsprozesse im Gehirn besser kontrollieren können.
Mit Blick auf Ihre Erfahrung in der Forschung: Welche Erwartungen haben Sie in Hinblick auf mögliche Verbesserungen für MS-Betroffene?
Erstmalig konnte im Rahmen internationaler Studien mit schubfreien MSPatient:innen nachweislich die Zunahme der Behinderung gebremst werden. Man muss Betroffene aber trotzdem vor überzogenen Erwartungshaltungen schützen: Damit lässt sich MS weder heilen oder stoppen, noch lassen sich bereits vorhandene Schäden beheben. Ihre Erkrankung wird sich weiter verschlechtern, nur eben etwas langsamer. Eine erfolgreiche Zulassung würde nicht nur Hoffnung auf Verlangsamung der Behinderungsprogression, sondern auch eine Signalwirkung bedeuten. Das Interesse für weitere Forschung und Entwicklung in diesem Bereich wird sich erhöhen, was mittelfristig zu neuen und hoffentlich noch wirksameren Therapien führen könnte.
Was bedeutet Schwelende MS für die Betroffenen?
Die große Herausforderung für die Betroffenen ist das Bewusstsein darüber, wie sich ihr Gesundheitszustand Jahr für Jahr verschlechtert – ohne, dass man das objektiv abbilden kann. MS-Schübe lassen sich aufgrund der Narben, die sie im Gewebe hinterlassen, mit einer MRT gut sichtbar dokumentieren. Bei der schwelenden MS ist das Absterben der Nervenzellen überwiegend diffus, weshalb es mit bildgebenden Verfahren nicht adäquat erfasst werden kann. Das führt dazu, dass Patient:innen eine Verschlechterung erleben, die für Ärzt:innen nicht objektivierbar nachvollzogen werden kann. Neben der Erkrankung selbst kann so auch das Unverständnis zu einer Belastung werden – gerade dann, wenn existenzielle Fragen, wie etwa eine Berufsunfähigkeitspension, im Raum stehen.
Wie geht man mit diesem Wissen um die Verschlechterung der eigenen Gesundheit um?
Die Frage betrifft im Grunde nicht nur MS-Patient:innen, sondern in letzter Konsequenz jede:n von uns. Wie gehen wir damit um, dass wir älter und schwächer werden und irgendwann versterben? Bei MS-Patient:innen ist das ein Prozess, der schneller verlaufen kann. Es gibt Patient:innen, die sich aufgeben, und Patient:innen, die einen schweren Krankheitsverlauf haben, aber das Leben im Rahmen ihrer Möglichkeiten genießen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Neben Aspekten, die die Erkrankung bremsen – ausreichend Bewegung, gesunde Ernährung und natürlich auch Medikation – ist es wichtig, hier anzusetzen. Institutionen wie die MS-Gesellschaft und Selbsthilfegruppen, die motivierend unterstützen, leisten einen entscheidenden Beitrag für die Lebensqualität der Betroffenen.